Kirchentagsdiskrepanzen

Hanno Terbuyken
4 min readJun 14, 2023

Beobachtungen vom 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag (7.-11. Mai 2023)

Schild “Kirche überfüllt” beim DEKT 23 vor der Lorenzkirche in Nürnberg. Foto: Hanno Terbuyken

Es war eine ganz neue Kirchentagserfahrung — zum ersten Mal als Aussteller auf dem Protestantentreffen. Das bedeutet: Mittwoch anreisen, aufbauen, eine Reise durch die fränkische Bratwurstküche beim Abend der Begegnung und dann den Abendsegen genießen.

Nürnberg war mein neunter Evangelischer oder Ökumenischer Kirchentag (plus zwei Katholikentage in Münster & Stuttgart), aber anders als bisher stand das Programm für mich nicht im Vordergrund. Donnerstag, Freitag, Samstag am Stand in Messehalle 1, dazwischen und danach Einladungen (danke dafür!) zu diversen Empfängen wahrnehmen und yeet und ruach in Fürth besuchen.

Deshalb ist mein Eindruck vom Kirchentag auch nur aus dieser Perspektive entstanden: aus den Messehallen 1, 6 und 9, dem restlichen Gelände, dem Abendprogramm in der Nürnberger Altstadt und ganz, ganz vielen Gesprächen mit allen möglichen Menschen. Der Vorteil, wenn man einen Stand hat, ist nämlich: Alle wissen, wo man normalerweise zu finden ist, und kommen gerne vorbei.

Drei Beobachtungen habe ich aus dieser Perspektive mitgenommen, und zwar drei Diskrepanzen.

Zur Vergangenheit: Gefühlt war es nicht so voll wie früher, und die offizielle Zahl der verkaufen Tickets gibt das ebenfalls her. 60.000 Dauerbesucher*innen, dazu nochmal 10.000 zahlende Tagesgäste sollen es gewesen sein (Quelle: evangelisch.de). Das deckt sich mit meinem Eindruck in den Messehallen. Die Gänge waren nur manchmal stoßweise voll, und selbst an einer guten Location wie unserer in Halle 1 war es zwar geschäftig, aber nie voll.

Als ich 2001 beim DEKT in Frankfurt noch als Helfer mit dem VCP unterwegs war, wurde uns noch eingeschärft, dass Hallen auch ohne Programm überfüllt sein könnten. In Nürnberg waren die großen Programmpunkte zwar gelegentlich überfüllt, zum Beispiel das Abendmahl mit Elektro-Chill-Musik in der Lorenzkirche mit Anna-Nicole Heinrich, aber die Menschen an den Ständen hinten in den Hallen im Markt der Möglichkeiten haben mir von nur sehr, sehr wenigen Besucher*innen erzählt. An den Zweitstandort Fürth führte es nur Menschen, die für spezifisches Programm dort auftauchten.

Auch beim Kirchentag gilt also: Location, Location, Location. Der Kirchentag sollte sich überlegen, die Standorte noch ein bisschen kompakter zusammenzuführen. Und nächstes Mal das Zentrum Digitale Kirche bitte auch auf den Kirchentag und nicht wie in Nürnberg/Fürth und Dortmund ins Nirgendwo am Rand.

Zur Gegenwart: Der Mittwochabend war nicht nur Abend der Begegnung, sondern auch Party-Abend der Nürnberger Club-Szene, denn es war ja Vorabend des Feiertags Fronleichnam. Die Menschen, die herausgeputzt und hochgestylt vor den Clubs in der Nürnberger Innenstadt standen, hatten mit den Kirchentagsbesucher*innen eher wenig gemeinsam — außer dass sie ihre jeweilige Gemeinschaft gesucht haben.

Ellen Radtke von Anders Amen hat es unter anderem auf Instagram auf den Punkt gebracht: Kirchen(tags)besucherinnen tragen keine Gel-Nägel. Selten ist mir dieser Unterschied so krass aufgefallen wie an den Abenden in der Nürnberger Innenstadt. Das Partyvolk hatte sich deutlich sichtbar schick gemacht und stand Schlange vor den offenbar zahlreichen Clubs der Altstadt, die von außen nur aus einer Tür, einem Einlassgitter und einem grimmig dreinblickenden Einlasser bestehen.

Gleichzeitig bewegte sich die Kirchentagsmasse durch die gleichen Gassen und Straßen. Gemeinsam am gleichen Ort, aber strikt getrennt. Kirche und Gemeinde muss sich wieder mehr auf die Straßen und Plätze begeben, aber das bringt auch keine neue Sichtbarkeit, wenn sie trotzdem eine Parallelgruppe bleibt.

Wie reden wir mit den Gelnägelträger*innen? Will der Kirchentag dafür auch ein Ort sein? War er in Nürnberg jedenfalls nicht.

Zur Zukunft: Was kommt als nächstes, Kirchentag?

Was mir in Nürnberg nochmal klar geworden ist: Gerade nach Corona und dem digitalen ÖKT in Frankfurt ist der Kirchentag die haptische Verdichtung von digitaler und regelmäßiger Gemeinschaft. Was meine ich damit? Die Menschen kommen nicht allein. Sie kommen in Gruppen, in Reisebussen oder Helfergruppen, als Stand-Team oder Mitwirkende. Selbst wenn sie alleine kommen, ist das Schönste doch, die vielen Menschen zu sehen, die man schon kennt. Beim Influencer*innen-Treffen habe ich Sätze gehört wie: “Schön, dass wir uns wieder anfassen können” und “gut zu sehen, dass du auch Beine hast” (statt wie im Zoom-Meeting, wo die normalerweise nicht zu sehen sind).

Kirchentag bedeutet eben auch: Man trifft sich, und zwar mit Menschen, die man schon kennt. Das Kennenlernen neuer Menschen ist da eher Nebeneffekt. Die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt, nicht mehr die politische Ansage. In einer Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz) ist der Kirchentag zwar eine Kollektivierung, aber nur innerhalb einer bestimmten Gruppe. Er ist mehr Festival als “Zeitansage”. Jede Gruppe braucht diese Erneuerung und Verdichtung ihrer Gemeinsamkeiten, und gerade bei digitalen Communities geht das eben doch am besten bei gelegentlichen physische Treffen. Vor allem, um das beiläufige, das zufällige, ungeplante, spontane, nicht zielgerichtete Zusammensein passieren lassen zu können, was online nicht auf die gleiche Weise geht.

Kirchentagspräsident Thomas de Maiziere sieht den Kirchentag in einem “tiefen Reformprozess”. Ich bin gespannt, was das für Hannover 2025 heißt. Hinfahren werde ich aber auf jeden Fall wieder — man trifft einfach so viele nette bekannte Menschen, dass es sich auch für kleinere Kirchentage lohnt. Jedenfalls so lange sie alle kommen. Und so lange der Kirchentag diesen analogen Netzwerkeffekt aufrecht erhält, kann er noch lange leben.

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Hanno Terbuyken

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