Cyberpunk, Transhumanismus und ein Kloster

Hanno Terbuyken
9 min readSep 16, 2021

Dies ist mein Vortragsmanuskript zum Thema “Cyberpunk” bei der LevelUp-Konferenz im September 2021.

Die Lebenspfade in Cyberpunk 2077: Nomad, Street Kid, Corpo(rate).

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„The sky above the port was the color of television, tuned to a dead channel.“

„Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, auf einen toten Kanal geschaltet.

„Ich bin ja kein User“, hörte Case jemanden sagen, als er sich die Menge an der Tür des Chat drängte, „mein Körper leider neuerdings einfach unter Drogenmangel!“ Es war eine Sprawl-Stimme und ein Sprawl-Spruch. Das Chatsubo war eine Bar für Berufs-Exilanten; man konnte dort eine Woche lang trinken und keine zwei Worte auf Japanisch hören.

Ratz schmiss die Bar. Sein prostethischer Arm ruckte monoton, als er einen Schwung Gläser mit Kirin vom Fass füllte. Er sah Case und lächelte. Seine Zähne waren ein Flickwerk aus osteuropäischem Stahl und brauner Fäulnis.

[…]

Das Lächeln des Barmanns wurde breiter. Seine Hässlichkeit war legendär — im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran eine Signalwirkung. Der altertümliche Arm surrte, als er nach einem anderen Glas griff. Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkopplungsgesteuert und eingegossen in schmuddeliges, pinkfarbenes Plastik.“

Das sind drei der ersten fünf Absätze aus „Neuromancer“ von William Gibson, 1984 erschienen und mit dem Hugo, dem Nebula- und dem Philip-K.-Dick-Literaturpreis ausgezeichnet.

„Neuromancer“ gilt als die Geschichte, die das Genre „Cyberpunk“ in die breite Öffentlichkeit brachte. William Gibson erschafft darin die Vision des „Sprawl“, einer Megacity an der amerikanischen Ostküste, in der sich die großen Technologie-Firmen, organisiertes Verbrechen und unabhängige Hacker um Macht, Einfluss, Daten und Geld im „Cyberspace“ streiten.

Auch „Night City“, einigen vielleicht bekannt als Ort der Handlung des Videospiels „Cyberpunk 2077“, wird von Gibson hier beschrieben — es ist der kriminelle Stadtteil von Chiba City.

Was ist Cyberpunk?

Cyberpunk ist ein Untergenre der Science Fiction, das zu Beginn 1980er Jahre entstand und dann weiter ausformte. Neben Neuromancer gibt es einige andere bedeutende Werke, die das Genre begründet haben: „Do Androids Dream Of Electric Sheep“ von Philip K. Dick wurde 1982 zum Film „Blade Runner“ adaptiert, zwei Jahre vor Neuromancer. In der gleichen Zeit veröffentlichte William Gibson verschiedene Kurzgeschichten, die später in der gleichnamigen Sammlung „Burning Chrome“ veröffentlicht wurden. Darunter war auch als erste „Johnny Mnemonic“ von 1981, die 1995 ebenfalls als Film mit einem jungen Keanu Reeves in die Kinos kam.

Das Wort „Cyberspace“ findet sich erstmals in Gibsons „Burning Chrome“ von 1982 und beschreibt eine Vision der vernetzten Information, die dem heutigen Internet erstaunlich nahe kommt. Es wird auch als Net, Ice, oder Matrix beschrieben und ist die Infrastruktur, die die Welt, die Wirtschaft und das Geld zusammenhält. Alles außerhalb des Cyberspace ist defizitär, langsam, brutal — die wahre Macht und das wahre Leben spielt sich dort ab, wer nicht drin ist, ist abgehängt und kann nur eingeschränkt am Gesellschaftsleben partizipieren.

Das Wort „Cyberpunk“ selbst stammt aus der Kurzgeschichte „Cyberpunk“ von Bruce Bethke, erschieben im November 1983. Es bringt die anti-autoritäre Bewegung des Punk mit der Wichtigkeit zusammen, die Hochtechnologie in den 80ern bekam.

Cyberpunk ist außerdem ein beliebtes Setting für Videospiele, weil die Welten mit ihren Neonfarben visuell stark und kontrastreich sind. Außerdem sind die Fähigkeiten und Upgrades, die Spieler ständig bekommen, in der Spielwelt über Augmentation sehr gut erklärbar und abbildbar.

Cyberpunk als Genre ist in der gleichen Zeit entstanden wie die Grundsteine der heutigen Computer- und Internetwelt:

1971 — erster kommerzieller Mikroprozessor (Intel 4004)
1977 — Apple II
1981 — erstes MS-DOS
1984 — der Apple Macintosh kommt auf den Markt
1985 — Windows 1.0
1986 — erstes TCP/IP-Netzwerk
1988 — Adobe Photoshop erscheint
1990 — Start des WWW

Nebenbemerkung:

Der Tag, an dem das iPhone auf den Markt kam — 29. Juni 2007 — ist der Tag, an dem viele der Visionen des Cyberpunk auf einmal realisiert wurden. Wir kommen später darauf zurück.

Die Hauptmotive von Cyberpunk

Technology & Information Society:

Die Gesellschaft ist von Technologie und digitalen Netzwerken dominiert. Wer nicht am Cyberspace partizipiert, ist raus oder zumindest erheblich benachteiligt.

Zugleich gibt es aber auch Misstrauen gegen Technik, das aus der Angst herrührt, dass die Technologie den Menschen überwältigt. Die Jagd auf Androiden in „Blade Runner“ und der Kampf gegen die Maschinen in „Terminator“ oder „Matrix“ sind herausragende Beispiele dafür. Sich die Technik zunutze zu machen, ohne ihr Untertan zu werden — das kommt uns heute mit Blick auf die Wirkungen von Social-Media-Plattformen immer noch bekannt vor!

Der Cyberspace entspricht in seiner sichtbaren Form oft der „Virtual Reality“, wie wir sie heute kennen.

Gesellschaftliche Dystopie

In Cyberpunk-Geschichten ist der Staat als organisierende Form fast komplett verschwunden. Gesetze werden von gigantischen Firmen-Konglomeraten gemacht, die ihre eigenen Sicherheitskräfte, Polizisten oder Soldaten finanzieren und ihre eigenen Regeln durchsetzen.

Das Leben außerhalb der Firmenstrukturen ist dreckig, hart und gefährlich. Dieser Gegensatz zwischen „Corporate“ und „Independent“ findet sich in fast allen Cyberpunk-Welten wieder. Entsprechend sind auch die Ressourcen ungleich verteilt: Die Firmen haben das Geld und die beste Technologie. Wer seine Freiheit erhalten will, muss mit schlechterer Ausrüstung klarkommen.

Oft ist die kohlenstoffliche Welt zudem auch noch zugrunde gerichtet. Der Manga „Akira“ beispielsweise, 1988 auch als Kinofilm umgesetzt, spielt in einem neu aufgebauten Tokyo, nachdem die Stadt 1982 in einer nuklearen Explosion und dem Dritten Weltkrieg zerstört wurde. In „Ready Player One“ reist der Hauptcharakter Parzival in einem gepanzerten öffentlichen Bus nach Columbus, Ohio, durch „die gesetzlosen Ödlande, die außerhalb der Städte lagen“ (Kap. 0016).

Hacking ist eine Grundfähigkeit vieler Menschen, die sich im Cyberspace bewegen, sobald sie sich außerhalb der „sicheren“, von Konglomeraten kontrollierten Spaces bewegen.

Human Augmentation & Cyborgs

Ein wesentlicher Aspekt des Cyberpunks ist die Verbindung von Technologie und Biologie. (Siehe: Neo jacking into the Matrix.) Technologie wie Bildschirme, Kameras, Netzwerkanschlüsse per Kabel oder drahtlos, mechanische Verstärkungen an Armen und Gelenken, Microchips, Bio-Überwachung oder Nano-Roboter in den Blutbahnen sind in der Welt des Cyberpunks selbstverständlich. Menschen sind längst zu Cyborgs geworden: Wesen, die ohne ihre technologischen Implantate nicht leben oder zumindest nicht performen können.

Die technologisch verbesserten Menschen stehen im Gegensatz zu Androiden, die vollständig künstlich sind und in der Regel als Antagonisten verstanden werden, jedenfalls dann, sobald ihre künstliche Intelligenz versucht, sich der Herrschaft der Menschen zu entziehen.

Langfristige biologische Verbesserungen, beispielsweise Veränderungen am Erbgut, kommen seltener vor. In der Regel verbessern sich die Menschen in Cyberpunk-Geschichten persönlich und kurzfristig: über chemische Stimulanzien, neue Organe und vor allem implantierte Hardware, die mit dem Körper (fast) untrennbar verbunden ist. Die Grenzen zwischen Mensch, Maschine und Gerät verschwimmen.

Cyberpunk als Genre überschneidet sich dabei mit wesentlichen Fragen des Transhumanismus. Der Transhumanismus beschäftigt sich mit dem Wunsch, die Möglichkeiten des Menschen durch Technologie zu erweitern.

Image from short film “ Tomorrow” (https://vimeo.com/339301440)

Cyberpunk, Cyborgs und unsere Menschlichkeit

Wie weit sind wir auf dem Weg in eine Welt, wie die Cyberpunk-Visionäre sie in den 80ern schon gesehen haben? Ich glaube, wir sind im Bereich der technisch unterstützten Menschheit schon sehr weit fortgeschritten (und habe das in einem Blogeintrag von 2019 schonmal aufgeschrieben: Wir sind Cyborgs der ersten Generation).

Zum einen haben wir in der Medizin inzwischen diverse Implantat-Möglichkeiten. Cochlea-Implantate für stark Schwerhörige und Gehörlose, künstliche Hüftgelenke oder Herzschrittmacher sind jetzt schon technische Ersatzlösungen für biologische Funktionen. Allerdings sind die medizinischen Implantate in der Regel defizit-orientiert. Sie erweitern die biologischen Fähigkeiten nicht, sondern ersetzen eine ausgefallene oder schwache Funktion.

In der Leichtathletik gibt es allerdings die Diskussion, ob Athleten mit Beinamputationen und Karbonfederbeinen einen Vorteil gegenüber Athleten ohne Prothese haben — das wäre dann der erste Schritt hin zu Verbesserung statt Defizitausgleich.

Zum anderen sind wir aber inzwischen mit körpernaher Technologie ausgestattet, die unsere menschlichen Möglichkeiten erheblich erweitert. Ich erwähnte bereits den 29. Juni 2007: Es war der Tag, an dem das iPhone auf den Markt kam.

Jason Kehe, Autor bei „Wired“, hat 2018 das Experiment gemacht, acht Monate nur mit einem Flipphone statt einem Smartphone zu leben. Außer telefonieren und SMS mit T9-Worterkennung konnte sein Telefon nichts. Die Folge: Seine Mutter machte sich ständig Sorgen, er hat sich (zumindest anfangs) immer wieder verlaufen und für alle Annehmlichkeiten des Alltags musste er sich eine “friend tax” erbetteln und sich bei Freunden die Grundfunktionen der vernetzten Welt ausleihen: Geld versenden, Taxis/Uber rufen, Essen bestellen, Wegbeschreibungen abrufen und so weiter.

Der Kleincomputer in der Hosentasche oder am Handgelenk ist eine echte Ergänzung unserer menschlichen Fähigkeiten. Das Gerät kann zwar weniger Datenmenge speichern als unser Gehirn, dafür ist die Information immer im oberflächlich zugänglichen Speicher abgelegt. Es ergänzt unseren Orientierungssinn um eine sehr genaue Ortsangabe und die Umgebungswahrnehmung auch hinter die nächsten zwei Kreuzungen. Es erhöht die Wahrnehmungsdistanz für andere Menschen auf unendlich: Wir können mit Menschen, mit denen wir uns einmal verbunden haben, bis auf die andere Seite des Globus in Kontakt bleiben.

Das Gerät an sich ist nur ein Teil dieser Möglichkeiten, denn wir sind damit sogar vernetzt. Mit dem Smartphone, das mit dem Internet verbunden ist, haben wir den klassischen Cyborg mit mechanischen Armen und eingebauten Computern zur lokalen Leistungssteigerung in manchen Fähigkeiten bereits überholt.

Das Smartphone macht uns zur ersten Cyborg-Generation

Wir sind die erste Generation Cyborgs. Ohne unser externes Gedächtnis, unsere Navigationssoftware und die ständige Erreichbarkeit sind wir nicht komplett. Die technischen Ergänzungen unserer biologischen Fähigkeiten machen uns erst zu kompletten Menschen in unserer heutigen Umgebung: einer vernetzten Welt.

Das kommt den Cyberpunk-Beschreibungen aus den 80ern schon sehr nahe: die Hacker aus Neuromancer, die Borg aus Star Trek, die zwangsweise vernetzten Menschen in Matrix, die immer transparente Welt aus The Circle. Aber soweit sind wir noch lange nicht. Bisher sind die Erweiterungen unserer menschlichen Fähigkeiten durch das weniger als eine Armeslänge entfernte Datennetz eine Erleichterung und etwas, das mehr positive als negative Effekte hat.

Wired-Autor Jason Kehe hatte sich von der Smartphone-Abstinenz versprochen, einen klareren Kopf im Alltag zu bekommen. Das hat für ihn nicht funktioniert. Zwar hat er seinen Orientierungssinn wieder entdeckt. Aber das Smartphone, dass er nicht hatte, hat ihn mental mehr belastet als das Smartphone, als er noch eins hatte.

Ich bin auch einer dieser Cyborgs der ersten Generation. Und wie jede erste Generation sind wir klobig, umständlich, fehleranfällig. Wir können unsere Augmentierung aus Versehen in den Gulli werfen. Dafür sind wir auch ohne (mehr oder weniger) lebensfähig — jedenfalls bis jetzt.

Cyberpunk und die Schöpfung

Natürlich ergeben sich daraus Fragen an das Menschenbild. Wie passt die technologische Spontan-Evolution, mit der Menschen sich ständig selbst verbessern, zum christlichen Schöpfungsbild?

Eine Gemeinsamkeit zwischen biblischem Bild und Transhumanismus ist die Wahrnehmung des Unperfekten: Auch wenn die Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, sind sie doch unperfekt und erlösungsbedürftig. Dort, wo Transhumanismus das Streben nach Perfektion zum Ziel hat, wiederspricht sich das. (Mehr dazu im Artikel zu Transhumanismus von Steffi Fabricius im WiReLex.) Der Mensch ist sola gratia durch die Gnade Gottes erlöst, nicht durch sich selbst und das eigene Handeln.

Die menschliche Optimierung im Cyberpunk-Genre zielt allerdings zunächst nicht auf ein transzendentes Ziel. Es ist der Versuch, in der diesseitigen Welt alle Möglichkeiten auszuschöpfen, weltliche Bedürfnisse zu befriedigen: Wohlstand, Sicherheit, Partnerschaft und Sex, Gesundheit, Macht.

Es gibt Menschen, die durch ihre technischen Möglichkeiten sehr alt werden — Jules Deane in „Neuromancer“ ist 135 Jahre alt und immer noch fit. Die Überwindung des Todes und der Sterblichkeit gehört zu den Themen im Hintergrund. Zugleich sind die Charaktere in den Geschichten selbst auf der Suche nach Sinn und Lebensfrieden, nach Selbstbestimmung und der Freiheit, in einer total vernetzen Welt selbst darüber zu entscheiden, wann und wie sie in die Informationsnetzwerke eintauchen und wieder auftauchen.

Ich versuche mir deshalb vorzustellen, wie ein Cyberpunk-Kloster aussehen könnte. Denn Klöster sind für mich Orte der Sinnsuche und des Ausweichens aus der Alltagsmühle. Das Klosterleben stellt einen Lebensrahmen, der viele Alltagssorgen durch eine andere, feste Routine ersetzt.

Ich glaube, ein Cyberpunk-Kloster würde sich vor allem dadurch auszeichnen, dass auch außerhalb des Netzwerks eine sichere, friedliche Existenz gesichert ist — und dadurch alle Freiheit eröffnet wird, sich selbstbestimmt durch den Cyberspace zu hacken.

Vielen Dank für’s Zuhören — und jetzt meine Frage an euch: Wie stellt ihr euch ein Cyberpunk-Kloster vor?

(Der Frage ist dann eine Session beim LevelUp-Barcamp nachgegangen. Vielleicht greife ich das später nochmal auf.)

Links

Mehr Cyberpunk

Eine kleine Auswahl, ohne auch nur ansatzweise einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben:

Filme:

  • Blade Runner (1982) / Blade Runner 2049 (2017)
  • Terminator (1984)
  • RoboCop (1987) / RoboCop (2014)
  • Akira (1988)
  • Johnny Mnemonic (1995)
  • Ghost in the Shell (1995) / Ghost in the Shell (2017)
  • Judge Dredd (1995) / Dredd (1012)
  • Matrix (1999)
  • Minority Report (2002)
  • Alita: Battle Angel (2019)

Alle Filme auf IMDB mit dem Tag „Cyberpunk“

Bücher:

  • Bruce Bethke: Cyberpunk (1983)
  • William Gibson: Burning Chrome (Collection, 1986)
  • William Gibson: Neuromancer (1984)
  • Ernest Cline: Ready Player One (auch als Film, aber das Buch ist besser)

Die Reading List vom Project Cyberpunk

(Video)spiele:

  • Shadowrun
  • Deus Ex
  • Mirror’s Edge
  • Ghostrunner
  • Neon Abyss
  • Cyberpunk 2077

Alle Spiele auf Steam mit dem Tag „Cyberpunk“

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Hanno Terbuyken

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